KOPFBAHNHOF

Ein Wohnkomplex in Bahnhofsnähe in Salzburg: Objekt des Anstoßes – und Anstoß für die Filmemacher, in unbekannte Lebenswelten ein- zudringen. Die Reise durch leere Gänge, entlang karger Mauern ins Innere dieses Mikrokosmos ist geprägt von den Rückkoppelungen zwischen fremdem und eigenem Voyeurismus – und entwickelt sich letztlich zu einer Geschichte des Scheiterns. Kopfbahnhof als Metapher – Endstation.

 

ZUM FILM:

Der Film beginnt mit einer Dia-Projektion. Schnappschüsse aus dem Urlaub, trautes Familienleben, Spaß mit Freunden. Bilder, die Nähe vermitteln: Ein Ausblick auf möglichen Durchblick? Doch nachdem wir den Titel ‚Kopfbahnhof‘ lesen wechselt die Szenerie in die Kälte eines Stiegenhauses.

Die Beleuchtung ist kühl, die Gänge sind nackt und leer. Schritte hallen durch das Haus, Wortfetzen sind zu hören. Dann die Stimmen aus dem OFF: ‚Ein anständiger Mensch geht hier nicht herein. Hier haben schon immer Gift, Alkohol und Ausländer gewohnt.‘

Noch sind keine Menschen zu sehen, nur der Aufzug fährt unermüdlich auf und ab. Ein Blick um die Ecke: Nichts. Doch plötzlich sind wir mitten drin. Wir springen in mehrere Wohnungen, überall hören wir das Gleiche: ‚Raufereien, Autos die angezündet werden, Vergewaltigungen, Morde und Prostitution. Ich weiß nichts von meinen Nachbarn und hoffe, dass sie auch von mir nichts wissen.‘ Ein anderer erzählt von seinen 27 Vorstrafen und davon, wie seine Freundin an einer Überdosis Heroin gestorben ist.

Eigentlich könnte der Film jetzt zu Ende sein. Nach einer halben Stunde ist alles erzählt. Der klassische Sozialporno ist zu Ende. Der Film aber geht weiter. Ein schleichender Prozess kommt in Gang, der die Demontage des Genres versucht. Das zuvor Gesehene erscheint in einem anderen Licht. Der Widerspruch bekommt seinen Raum im körperlosen Haus. Ein Mann, der gerade noch über ‚die Ausländer‘ hergezogen ist, fängt plötzlich an, über sich selbst zu lachen.

Das Kameraauge richtet sich nicht mehr bloß auf Stiegenhäuser und Wohnungen, sondern blickt jetzt auch auf die Filmemacher. Die Beobachter werden selbst zu Beobachteten. Ihre Stimmen mischen sich zu den Stimmen am Gang. ‚Kann man die Kamera einfach in einem fremden Haus, unangemeldet vor einer Wohnungstür aufstellen und draufhalten?‘

Die Hausmeisterin nimmt eine Antwort vorweg indem sie versucht, weitere Dreharbeiten zu verhindern. Man sieht sie nicht, man hört nur ihre Stimme durch die Gänge hallen: ‚Für was soll das gut sein? Wir wollen das nicht! Seid ihr vom ORF?‘

Auf diesen Streit folgt der Bruch. Das Kamerateam zieht vom Haus ab. Zum ersten Mal ändert sich die Perspektive. Das Panorama weitet sich. Wir blicken auf die Stadt Salzburg. Wir stehen auf einem Berg. Erleichterung macht sich breit. Ein zwangsharmonisiertes Ende? Mitnichten.

Die Filmemacher diskutieren im Schnitt-Studio über Sein und Nicht-Sein ihres Films. Ein neuer Film scheint zu beginnen. Das Makabre des Außergewöhnlichen wird zur Poesie des Alltäglichen. Ein Mann sichtet sein Interview. Auf die Frage: ‚Erkennen Sie sich selbst wieder?‘, antwortet er: ‚Ich stehe daneben und schau jemandem zu.‘ Ein bemerkenswerter Moment der Reflexion, der auch die Lage der Filmemacher umreißt. Sie sind mittendrin im Geschehen und stehen doch daneben. Sie erfahren nicht was sie wissen wollen, sondern nur was die Menschen preiszugeben bereit sind. War das Haus zu Beginn des Films eine Art Kopfbahnhof, in dem die Verlierer der Konsumgesellschaft gestrandet sind, wird der Film selbst für die Filmemacher zur Sackgasse und schließlich zum Kopfbahnhof.

Der junge Filmemacher sichtet mit einem Hausbewohner dessen private Dia-Sammlung. Er hält ein Dia gegen das Licht: ‚Was ist das?‘ Der Bewohner kneift die Augen zusammen und antwortet: ‚Das ist Lammragout mit frischem Mozarella in einer Bechamel-Blauschimmelkäsesauce.‘ Doch ein Haus wie jedes Andere.

David Gross

CREDITS:

TITEL: Kopfbahnhof
REGIE: Bernhard Braunstein/Martin Hasenöhrl
BUCH: Braunstein/Hasenöhrl
KAMERA: Bernhard Braunstein
SCHNITT: Braunstein/Hasenöhrl

TECHNISCHE DATEN:

Dokumentarfilm, DVCAM, 70 min.
JAHR: 2003
SPRACHE: deutsch
PRODUKTION: Braunstein/Hasenöhrl
FÖRDERUNGEN: offscreen – offenes film forum salzburg, Stadt und Land Salzburg

FESTIVALTEILNAHMEN:

Diagonale04 – lobende Erwähnung der Jugendjury, Filmfestival Cork Irland

TV-AUSSTRAHLUNGEN:

okto (oktoscop)